Leo Tuor: Giacumbert Nau – Bemerkungen zu einem Leben


"Jene die Giacumbert Nau sich heraufwünscht in seine Hütte, sind nicht heraufzukriegen, und von denen, die ihm gestohlen bleiben können, sind dauernd welche da. Giacumbert ergreift die Flucht."

Die Touristen finden es schön hier. Keiner von ihnen musste je ein verletztes Schaf mit einem Stein erschlagen. Keiner von ihnen schläft in einer Baracke mit kaputten Fenster und einem zu kurzem Bett. Und wenn sie sich an der Idylle satt gesehen haben und das schlechte Wetter hereinbricht steigen sie ab. Giacumbert bleibt. Er trotzt dem Wetter, Krankheiten, Verletzungen und dem Unglück aber vor allem trotzt er der Zeit und ihrem Geist. Mit ihm die Schafe und Ziegen der Bauern, mit ihm die Hündin Diabola und bei ihm die Gedanken an Albertina.

„ Liebste,
Es regnet ohne Unterlass. Manchmal denke ich noch an dich, vor allem wenn es regnet. Warum haben wir uns auf der Greina nicht geliebt, als es regnete? Wenn du nochmals bei Regen auf die Greina kämst, würden wir uns dann im Regen lieben?"

Was auch immer man sich unter einem Hirtenroman vorstellt, Leo Tuor erfüllt wohl die wenigsten Erwartungen. Dafür schafft es der Schweizer Autor, der selbst seit vielen Jahren die Sommer als Schafhirte auf der Alp arbeitet, aus einem Geflecht von Momentaufnahmen, Erinnerungen, Briefen und Gedichten das Bild eines Mannes zu entwerfen dem die Welt in den Bergen mit ihrem mühseligem Alltag näher ist als die Welt im Dorf unter den Menschen. Der Hirte Giacumbert Nau geht weniger mit den Schafen als das er vor den Menschen flüchtet. Er ist aber kein weltfremder Träumer der sich in einer idyllischen Blase verstecken will, in ihm steckt ein zorniger Kern den die Verlogenheit und die Gier der Bauern nährt.

„Die Falschheit und Missgunst der Alten machen unsere Dörfer zur Hölle. Darum verlassen so viele Junge das Tal. Wir können bloss warten und hoffen:
>>Wäre diese Generation nur schon tot.<<
Die Zeit arbeitet für uns. Oder täusche ich mich?“

Giacumbert Nau ist auf Rätoromanisch 1988 und auf Deutsch 1994 das erste Mal erschienen. Im Limmat Verlag ist 2012 der erste Teil der Surselver Trilogie in zweisprachiger Version erschienen [Giacumbert Nau (1988), Onna Maria Tumera (2002), Settembrini (2006)].

Die sehr eindringlichen und radikalen Bildern lassen die Poesie des Buches noch stärker wirken. Tuor zeigt uns eine Welt wie wir sie zuvor nicht gesehen haben obwohl wir sie kennen. Man kann sich dem verschließen oder Giacumbert mit offenem Blick immer wieder und wieder folgen.

„Früher glaubtest du, es könnte sich ändern.
Heute weisst du, dass es zu Ende ist.

Damals tanzten deine Wörter noch.

Meine Wörter tanzen noch immer, aber noch etwas
tänzelt mit meinen Wörtern im Wind:
der Fluch“

[Paul Eisenkirchner]