Auszug aus dem Buch des Windes I.

Die erste Begegnung auf Bahnsteigen, in Cafés, in Schulen, in Kaufhäusern, in Bussen, in Schwimmbädern, auf Eislaufplätzen, in Parks.

Im Grunde ist jedes Wort der Vergangenheit geschuldet. Wer eine Geschichte ist, hat gelebt.

Die Sammlung eines Lebens. Steine, Versteinerungen, Astfragmente, Wurzeln, Getrocknetes: Blätter, Blüten, Knochen, Zellulose …

Die Erinnerungen, ebenfalls vertrocknet und am Verblassen, eine Sammlung in steter Auflösung begriffen. Wohin, wo doch niemand etwas angerührt hat. Die Farben, ja die Farben ein Leben zu malen, die wurden freilich angerührt. Und Schicht um Schicht aufgetragen. Leider waren sie, wie sich erst nach und nach zeigt, nicht lichtfest. Sie sind am Verblassen und am Verschwinden. Mit ihnen die Erinnerungen. Hinein in die Stille der Bilderlosigkeit ist mit festem Schritt die Sprachlosigkeit getreten.

Und plötzlich hat das Leben eine Seite, von der aus sich die Gegenwart scheinbar nur noch durch die Konservierung der Vergangenheit in Alkohol ertragen lässt.

Können die Augen auf einer Fotografie dich tatsächlich nicht ansehen? Es ist doch, als ob sie jeden Moment blinzeln würden, die Starre abwenden und zu einem Lächeln übergehen wollten. Man kann eine Fotografie streicheln. Solange bis sich die Oberfläche vom Träger löst und nichts zurück-bleibt. Man möchte hoffen, dass man in die Augen einer Fotografie blicken kann und dass diese Augen sich öffnen und darüber-hinaus das Gehör des Abbildes eine Verbindung zum Gehör des Abgebildeten hat. Flüsternd, damit die Geheimnisse Zauber bleiben. So entstehen die Galerien der Einsamen, hinter fest verschlossenen Türen in Räumen, in denen der Staub sich längst wie ein Anstrich über alles hinweggesetzt hat. Die Bilder rahmenlos und deshalb frei an den Wänden und am Boden. Immer im Blick. Flüsternd die Bewegungen, die Stille der Andacht. Wie in den Wäldern nach einem Reaktorunglück ist Vergangenheit und Schweigen eins. Daraus lässt sich nur schwer ein bunter Drachen basteln, den ein Windstoß durch ein plötzlich aufspringendes Fenster in Bewegung zu versetzen vermag. Durch diesen Spalt kommt auch Licht und die Staubpartikel steigen auf und glitzern. Schon dieses Funkeln in der Luft ist Grund genug das Fenster wieder zu verschließen.

Der Blick liegt in der Ferne vergraben und kann sich nicht aus seinem Grab befreien. Der Blick hat keine Hände und Finger, keine Arme zum Graben. Der Blick erstickt nach und nach.

Die Fotografien werden stumpf und verschwinden hinter dem sich langsam wieder absenkenden Staub.

Die ersten wie unabsichtlich Berührungen der Fingerspitzen.

Im Totholz werden Tunnel ausgehoben, ein Netzwerk des Untergangs. Jeden Tag bricht eine Schicht und öffnet die darunterliegenden, bis dahin versteckten Bahnen. Nach jedem Abfallen ein Krabbeln und Kriechen in die Tiefe. Neue Schächte werden gebohrt, eine neue Heimat begründet.

Wie ist deine Geschichte? Lass sehen, an welchem Punkt wir uns treffen könnten. Weder Zeit noch Ort reichen aus, um das Kreuzen der Wege zu erfassen. Die Fakten sind macht- und haltlos. Ein Punkt, der auf keiner Karte, in keinem Atlas und zu keiner Zeit je erfasst wurde, noch werden könnte. Die Beschreibung liegt im Sanft eines Gesichtes. Die Nasenspitzen einen Moment vor der Berührung, die Lippen im Abschließen des Wortes, im Öffnen des folgenden aneinander, zueinander.

„Sprich nicht weiter, sonst nähern wir uns dem Ende.“

 

(Auszug aus dem Text: "Auszug aus dem Buch des Windes" erschienen in der Anthologie "AuserLesen" anlässlich 25 Jahre Hans Weigel-Literaturstipendium, herausgegeben von Barbara Neuwirth. Literaturedition NIederösterreich