Das erste Buch aus ihren Händen

Es ist schon eine kleine Ewigkeit her, als ich mein erstes Buch aus ihren Händen empfing. Vieles von damals ist nicht mehr. Die meisten Handwerker wurden nicht mehr gebraucht, viele Fachgeschäfte verloren ihre Kundschaft oder schlossen ihre Pforten, weil niemand die Nachfolge antreten wollte. Die duftenden Backstuben sind längst für immer geschlossen, der Schirmhändler hat das Geheimnis seiner Kunstfertigkeit zwei Meter unter die Erde mitgenommen. Die Confiserie an der Ecke ist nur noch ein kleines Cafe. Es führt keine Süßigkeiten mehr. Schaumerdbeeren, Kokosstangen, Schokoladebananen und vieles mehr füllte die alte Frau mit ihren rissigen, zittrigen Fingern genau gewogen oder abgezählt in durchscheinende Papiersäckchen und legte diese wie Köder für uns in die Glasvitrine aus Sicherheitsglas. Wir folgten dem Ruf des Zuckers, verlangten nach dem einen oder anderen Säckchen, bis unsere Geldbörsen leer waren. In der Confiserie klingelte die Kasse, die Umsätze des Kürschners brachen ein, er musste sein Geschäftslokal verkleinern und siedelte schließlich um. Die Liste ließe sich endlos fortsetzen, aber dann wäre es eine andere Geschichte als die, welche ich eigentlich erzählen wollte.

Es ist schon eine kleine Ewigkeit her, als die Menschen Glockenhosen und bunte Hemden mit langen Krägen trugen. Man konnte noch zwischen braun und blau wählen, auf jeden Fall aber waren es die Turnschuhe von Semperit. Mit oder ohne Turnschuhe tanzte man zu Songs von Glamrockbands wie Slade, Sweet, Sparks oder Golden Earring. Monatelang schmiedete ich Pläne. Ich beschloss, mein Haar wachsen zu lassen und das schönste Mädchen der Welt nach der Schule anzusprechen.

„Hallo, wie geht’s? Wo gehst du hin?  Kann ich mitkommen?“, sprudelten die Fragen aus meinem Mund. Sie sah mich an. „Ich möchte mir ein Buch ausborgen, du kannst mich begleiten“, antwortete sie. „So einfach geht das?“, dachte ich mir etwas überrascht.

 

Ich begleitete das schönste Mädchen der Welt in die Welt der Bücher. Es war ein unbeschreibliches Gefühl neben ihr hergehen zu dürfen. Ich wünschte, der Weg zur Bibliothek würde durch magische Kräfte länger und länger. Nun war Magie und Zauberei ganz eng mit Bobby Lugano und dem unerhörtem Zufall des Gelingens verknüpft, daher hielt ich knapp dreieinhalb Minuten später dem schönsten Mädchen der Welt die Tür zur Bibliothek auf. Sie trat ein, ich folgte ihr.

Wir schritten rasch durch eine lange Reihe von Regalen. Hier und da standen Menschen mit geneigtem Kopf. Hier sprach niemand, man starrte auf Buchrücken bis man einen interessanten Titel fand. Ich fixierte den schönsten Hinterkopf der Welt, der eben am Ende des Ganges um die Ecke bog. Ich lief los, übersah aber eine abgestellte Tasche und stürzte. „Psst, psst“, zischte es aus verschiedenen Richtungen. Das Licht im Gang wurde schwächer, die Röhren flackerten kurz bevor sie erloschen. Tiefschwarze Dunkelheit. Langsam stand ich auf und tastete mich an den Regalen entlang. Als ich das Ende des Ganges erreichte ging das Licht an. Vor einer fast geschlossenen weißen Flügeltür saß ein Mann. Er trug glänzende Halbschuhe, einen dunkelbraunen, halblangen Mantel und auf seiner großen Spitznase Nase hüpfte eine riesige Hornbrille mit zentimeterdicken Gläsern auf und ab. Um den Mund trug er einen langen, dünnen, schwarzen, tatarischen Bart. „Psst, psst“, meinte er zu mir gewandt.

„Haben Sie ein Mädchen gesehen?“, fragte ich ihn. „Psst, psst“, war seine Antwort. Der Mann beugte sich leicht nach vorne. Es schien als wollte er etwas sagen, er presste die Lippen zusammen. Enorme rot geäderte Augen starrten mich an. Das linke Auge zuckte deutlich sichtbar unter der Anstrengung. Und noch ein „Psst“ entwich ihm. Totenstille.

Ich konnte diesem Blick nicht standhalten, stattdessen sah ich auf zwei dunkle Löcher im Holzboden in denen zwei kleine Mäuse im Kreis liefen

„Psst-psst!“ Er hob seine rechte Hand, zeigte auf ein Schild über der weißen Flügeltür, auf dem „Kinderabteilung“ stand und dann auf ein Schild, das an seine Brusttasche geheftet war, auf dem statt eines Namens „Bereichsleiter“ stand. Endlich beendete er das Schweigen. „Ich kann dir jetzt den Eintritt nicht gewähren, psst“, meinte er. Etwas überrascht fragte ich: „Kann ich später eintreten? „Es ist möglich, psst“, sagte der Bereichsleiter, „jetzt aber nicht, psst.“ Da die Tür einen Spalt geöffnet war, riskierte ich einen Blick in das Innere des Raumes. Als der Bereichsleiter das bemerkte, lachte er und sagte: „Wenn es dich so lockt, versuche es doch, trotz meines Verbotes hinein zu gehen. Ich bin mächtig, aber ich bin auch nur der unterste Bereichsleiter. Von Raum zu Raum sitzen Bereichsleiter, einer mächtiger als der andere. Schon den Anblick des dritten kann nicht einmal ich ertragen.“

„Ich wage es trotzdem, ich habe keine Angst“ sagte ich bestimmt und öffnete durch jene weiße Flügeltür, die das schönste Mädchen der Welt, das Tor zur Welt nannte. Langsam trat ich ein. Der alte Dielenboden knarrte unter meinen Füßen. „Psst, psst!“, zischte es wieder. Jetzt erst sah ich sie. Das musste die Herzkönigin sein, die da hinter einem massiven Schreibtisch thronte. Sie trug ein enges Kleid mit knallroten Blumen, und ein dazu passender, süßer Duft erfüllte den ganzen Raum. Um den Hals hatte sie ein Halstuch geschwungen, kirschrote Lippen leuchteten aus dem runden Gesicht. Die obligate Hornbrille war mit Glitzersteinen verziert. Ihr Markenzeichen war allerdings ihre Frisur, die einer Extraportion Zuckerwatte glich und immer exakt gleich auf dem Kopf saß. Wenn sie das Rückgabedatum in die entlehnten Bücher stempelte, bebte und schlingerte die Zuckerwatte, ein Schauspiel, das mich einigermaßen fesselte. „Such dir was aus, Schatzerl!“, sagte sie zu mir, während ich Ausschau nach dem schönsten Mädchen der Welt hielt. Ich fand sie mit geneigtem Kopf vor dem Regal mit der Beschriftung „Bücher für Mädchen 8 bis 12 Jahre“. Langsam und bedächtig schlich ich zu ihr, aber der Dielenboden knarrte unbarmherzig. „Wie bist du am Bereichsleiter vorbeigekommen?“, fragte ich sie. „Psst, psst!“ Da war es wieder. „Welcher Bereichsleiter?“, flüsterte sie.

Und noch einmal: „Psst, psst!“ Das schönste Mädchen der Welt hatte sich wieder den Büchern zugewandt. Aus dem Regal nebenan ragte ein Buch heraus. Jemand hatte das Buch nicht ganz nach hinten geschoben. Ich musste mich strecken, um es erreichen zu können. Vorsichtig, fast geräuschlos, nahm ich es aus dem Regal. Auf dem Umschlag war ein Segelschiff abgebildet. Ein Ruderboot mit Seeleuten lag davor im Wasser. „Die Schatzinsel“, das war der Titel des Buches. Ich setzte mich, schlug das Buch auf, las die ersten Seiten und war gefangen. Das war es. Ich wollte sofort zur Herzkönigin stolzieren, das Buch vor sie hinlegen und demütig flüsternd darum bitten, das Buch ausborgen zu dürfen. Ich zögerte jedoch. Irgendetwas hielt mich fest. Mein sechster Sinn sagte mir, dass etwas nicht in Ordnung war. Und da war es. Über dem Regal prangte ein Schild auf dem die Altersfreigabe für die Bücher angegeben war. Ich war zu jung für die Schatzinsel, das war klar. Mein reines, unschuldiges Gewissen verfinsterte sich. Ich wollte den Versuch wagen. Bestimmt könnte ich die Herzkönigin überlisten. Ich musste einen günstigen Moment abwarten, mich vor ihr auf Zehenspitzen aufstellen und ihr mit möglichst tiefer, verstellter Stimme meinen Wunsch entgegenschmettern. Ein verstohlener Blick in die Richtung der Herzkönigin und meine Zuversicht begann zu wanken. Mir war klar, es gab keinen günstigen Moment für potentielle Bücherdiebe.

Die Herzkönigin herrschte unumschränkt, allwissend und hochkonzentriert über ihr Reich. Unerlaubte Laute gab es nicht. Laufende und spielende Kinder gab es nicht. Lachende Kinder gab es nicht. Ordnung, Disziplin und „psst, psst“ waren oberste Gebote. Diese Einsicht machte mich nicht lockerer und mein Problem mit dem Buch nicht kleiner. Welche Strafe war für mein Vergehen vorgesehen? Eine Verbannung auf Lebenszeit war nicht auszuschließen. Ich müsste draußen auf das schönste Mädchen der Welt warten. Konnte sie mich noch als Begleitung akzeptieren? Das war mehr als unwahrscheinlich. Das Buch zurückzustellen brachte ich genauso wenig übers Herz. „Psst, psst“. Die Herzkönigin starrte mich an. Alle anderen Kinder im Raum starrten ebenfalls zu mir. Das schönste Mädchen der Welt kam zu mir und flüsterte mir ins Ohr: „Du sprichst mit dir selbst. Hör auf damit! Das ist unheimlich!“ Die Herzkönigin spitzte ihre Lippen, richtete den Zeigefinger auf mich und deutete mir unmissverständlich, dass ich vor zu erscheinen habe. Eine unsichtbare Kraft schob mich vor, Stück für Stück rückte ich der Herzkönigin entgegen, bis ich schließlich die Tischplatte mit meiner Nasenspitze berührte. Sie musterte mich von oben herab, während ich ihr das Buch entgegenhielt. „Wenn sie lächelt, hast du es geschafft“, dachte ich. Sie lächelte nicht. Sie nahm die Karte aus dem Buch, stempelte das Datum darauf, reichte mir das Buch, öffnete ihren Taschenspiegel und erneuerte die Farbe ihrer Lippen.